DER GROSSE ST. BERNHARD

Das Gotteshaus in den Wolken

Thomas Schuler auf den Spuren Napoleons am Grossen St. Bernhard. Mit tief ins Gesicht geschobenem Hut zog der Bergführer das Maultier, auf dessen Rücken in einen grauen Mantel gehüllt Napoleon saß. Der jahrtausendealte Pfad führte über schwindelerregende Schluchten auf die Passhöhe des Großen St. Bernhard. Einsamkeit lag in den eisigen Höhen von beinahe 2000 Metern, die die Männer überwinden mussten.
Behäbig schritt das Tier den steilen Abhang entlang, als plötzlich das vereiste Geröll unter seinen Hufen wegbrach. Das Maultier rutschte bis an den Rand der tiefen Schlucht. Geistesgegenwärtig sprang der Schweizer Bergführer Pierre Dorsaz zwischen das strauchelnde Tier und den gähnenden Abgrund, stützte mit dem ausgestreckten Arm Napoleon und drückte unter Einsatz seines gesamten Körpergewichtes das Maultier samt Reiter zurück auf den steilen Weg. Der keuchende Atem von Tier und Mensch war zu sehen, so schneidend kalt war die Luft, als die beiden ungleichen Männer einander mit weit aufgerissenen Augen anblickten. Was keiner von beiden ahnte, war, dass die letzten Sekunden über den Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts entschieden hatten.

Die Pfade von Einst

Wie von Geisterhand gelenkt jagen dichte Wolken über den Gipfeln dahin. Das knirschende Geräusch meiner Schritte im tiefen Schnee ist das einzige, was weit und breit die Ruhe der Bergwelt zu stören scheint. Während mein Blick über die schneebedeckten Berge gleitet, ragt Ehrfurcht gebietend der Große St. Bernhard aus ihnen hervor.
"In gewisser Höhe", erinnerte sich der 17-jährige Marie-Henri Beyle, heute besser bekannt unter dem Namen Stendhal, der als Kavallerist der Armee Napoleons im Mai 1800 auf diesem Weg unterwegs war, "wurde die Kälte beißend, ein penetranter Nebel umgab uns, Schnee bedeckte seit Langem die Marschstraße. Diese, ein schmaler Weg zwischen zwei Mauern aus rohen Steinen, war acht bis zehn Zoll tief von Schnee überweht mit steinigem Geröll darunter."
Warum stapfe ich hier durch die Einsamkeit dieser Bergwelt? Warum den Spuren eines Menschen folgen, der seit 200 Jahren tot ist? Warum noch einmal ein Buch über Napoleon, über den es doch schon mehr als eine halbe Million Bücher gibt; vermutlich mehr als über jeden anderen Menschen, der jemals gelebt hat? Die spannende Frage aber ist: Warum gibt es überhaupt so wahnsinnig viele Bücher über ihn? In jedem Fall darf die Bücherflut als Beleg angesehen werden, dass es bis auf den heutigen Tag Widersprüche und Fragezeichen in Bezug auf die historische Bewertung Napoleons gibt, die jeder Autor oder jede Autorin dann mehr oder weniger begründet zu beantworten sucht.
Goethe sprach von Napoleon fast liebevoll als von "seinem Kaiser", Heinrich von Kleist nannte ihn von abgrundtiefem Hass erfüllt einen "Höllensohn", Heinrich Heine verehrte ihn Zeit seines Lebens schwärmerisch und Tolstoi sprach ihm kategorisch alles Menschliche ab – Napoleon polarisiert bis heute, nicht nur in der Welt der Literatur, sondern auch in der Geschichtswissenschaft. Viele der Darstellungen, Interpretationen und Wertungen könnten zum Teil unterschiedlicher nicht sein. Wo aber ist zwischen Dämonisierung und Glorifizierung, zwischen Verherrlichung und Schuldsprechung der echte Napoleon?
Der Umstand, dass die weltweit erscheinende Publikationswelle über das Thema ungebremst anhält, deutet darauf hin, dass in seiner Geschichte noch immer ein Geheimnis zu liegen scheint. Was sonst würde all jene schreibenden und lesenden Menschen bewegen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Vielleicht ist es die Suche nach diesem Geheimnis, das ich irgendwo auf dieser Reise vom einen Ende Europas zum anderen zu ergründen hoffe. Während mein Blick über die atemberaubend schöne Bergwelt schweift, kreist weit über den Gipfeln, dem Auge schon beinahe entrückt, ein Steinadler.

Das Unmögliche

Wenige hundert Meter südlich von Bourg-Saint-Pierre führen meine Schritte an jener steil abfallenden Schlucht vorbei, in der Napoleons Aufstieg zum mächtigsten Mann Europas um ein Haar ein jähes Ende genommen hätte. Wäre es dem jungen Schweizer Bergführer an dieser Stelle nicht gelungen, das Maultier zurück auf den Weg zu schieben, so hätte es das riesige Empire von Barcelona bis Hamburg, die Sonne von Austerlitz, das Jahrhundertfeuer von Moskau und einen Wiener Kongress, der Europa nachhaltig neu ordnete, nie gegeben. Auch hätte der renommierte Historiker Thomas Nipperdey sein Standardwerk über die "Deutsche Geschichte 1800–1918" nicht mit dem wegweisenden Satz "Am Anfang war Napoleon" beginnen können, weil es diesen Anfang dann niemals gegeben hätte.