LONDON

Das perfide Albion

Kap Trafalgar

Recherchereise für "Auf Napoleons Spuren - Eine Reise durch Europa" bei dem Ölgemälde der Schlacht von Trafalgar von William Turner in der Tate Gallery (London). Von Cádiz geht die Fahrt mit dem Mietwagen entlang der zerklüfteten Steilhänge der Costa de la Luz. Das ungewöhnlich helle Sonnenlicht, das der Küste ihren Namen gegeben hat, reflektiert in Myriaden Glitzlichtern im tiefblauen Atlantik, während von der unendlich scheinenden Weite her die Wellen in gischtschäumenden Kämmen auf die Strände zurollen. Ende der 1960er Jahre hatten Hippies diese wildromantische Landschaft für sich entdeckt und werden bis zum heutigen Tag davon angezogen. Als endlich der Leuchtturm von Trafalgar am Horizont auftaucht, ist es bereits Abend geworden. An diesem landschaftlich eindrucksvollen Punkt hatte zur Zeit des römischen Weltreiches ein Juno-Tempel gestanden, und die Araber waren 711 im benachbarten Tarifa gelandet, um halb Spanien für Jahrhunderte zu beherrschen. Vor allem aber konnte von diesem Punkt aus die vielleicht berühmteste Seeschlacht der Geschichte beobachtet werden, die, wie englische Offiziere berichteten, in Sichtweite des Kaps stattfand. Da das letzte Stück der Straße zum Leuchtturm von goldgelbem Sand verweht und für den Verkehr gesperrt ist, stelle ich den Wagen ab und gehe das letzte Stück des Weges zu Fuß. Schon von Weitem sind die sechs gewaltigen Lichtkegel zu sehen, die im 360-Grad-Winkel kilometerweit über den rauschenden Fluten kreisen. Dann stehe ich vor dem auf einer Anhöhe thronenden Leuchtturm, der sich an der Spitze des Kaps in den Himmel erhebt. Am Tag der Schlacht gab es den Leuchturm noch nicht. Mein Blick gleitet über das vom rötlichen Sonnenuntergang beleuchtete Meer, an dessen Horizont die nordafrikanische Küste zu erahnen ist. Wie viele Zehntausend Kanonenkugeln mögen irgendwo dort draußen in der Tiefe umgeben von Muscheln und von Tang überwachsen ruhen? Hinter dem Leuchtturm am äußersten Rand der Steilküste sind die Mauerreste eines arabischen Leuchtturms aus dem 13. Jahrhundert zu sehen, die hier auch schon am Tag der Schlacht dem Verfall preisgegeben waren.
Wer am Nachmittag des 21. Oktober 1805 an dieser verwitterten Ruine stand, wurde durch eine gewaltige Explosion aufgeschreckt. Die französische Achille war, nachdem ein an Bord ausgebrochenes Feuer ihre Munitionskammer erreicht hatte, in die Luft geflogen. "Es war der schrecklichste und faszinierendste Anblick, der denkbar ist" erinnerte sich ein Augenzeuge. "In einem Augenblick explodierte der Rumpf des Schiffes zu einer Wolke aus Feuer und Rauch. Eine leuchtende Flammensäule schoss ungeheuer hoch in die Luft und formte an ihrem oberen Ende eine gigantische Kugel, die für einige Sekunden wie ein gewaltiger, brennender Baum aussah, der von vielen dunklen Flecken gesprenkelt war, bestehend aus Holztrümmern und Menschenleibern, die hoch empor in die Luft geschleudert wurden."
Ruhig und gleichmäßig schlagen die Wellen unter der Ruine rauschend an den Strand während im Westen, wo die Schlacht tobte, die Sonne in rotorangenen Farbexplosionen ins Meer sinkt. Unten am Strand brennt ein Feuer, um das sich eine kleine Gruppe Hippies geschart hat. Ein junger Mann mit blondem langen Haar und freiem Oberkörper hält eine Gitarre und spielt, sicher ohne an die Tausenden Gefallenen zu denken, die an diese Küste geschwemmt wurden, einen Song von Bob Dylan:

How many roads must a man walk down
Before you call him a man?
How many seas must a white dove sail
Before she sleeps in the sand?
Yes, ’n’ how many times must the cannon balls fly
Before they’re forever banned?
The answer, my friend, is blowin’ in the wind
The answer is blowin’ in the wind